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Länderberichte

Politische Polarisierung prägt Belgien vor den Wahlen

von Dr. Beatrice Gorawantschy, Meike Lenzner

Wahlkampf im Lichte der EU-Ratspräsidentschaft

Am 9. Juni 2024 wird in Belgien gewählt – und zwar auf drei Ebenen: europäisch, national und regional[1]. Vor dem Hintergrund der im Juni endenden belgischen EU-Ratspräsidentschaft stellt sich die Frage, wo das Land einen Monat vor diesem Wahlmarathon steht. Aktuelle Umfragen deuten auf eine Polarisierung der Wählerschaft hin, die Prognosen für eine Regierungsbildung erschweren.

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Die letzten Parlamentswahlen fanden 2019 statt, woraufhin das Land fast 500 Tage bis zu einer Regierungsbildung brauchte. Laut Verfassung müssen an der föderalen Regierung Parteien aus beiden großen Landesteilen und Sprachgruppen (niederländischsprachiges Flandern und französischsprachige Wallonie) vertreten sein, was aufgrund kultureller und politischer Unterschiede regelmäßig zu langwierigen Verhandlungen führt. Bis heute hat die sogenannte „Vivaldi-Regierung“, die sich aus sieben Parteien zusammensetzt, das Land einigermaßen geräuschlos regiert. An der Regierung bis dato beteiligt sind die Sozialdemokraten (Partie Socialiste (PS) und Vooruit), die Liberalen (Movement reformiste (MR) und Open VLD) und die Grünen (Ecolo und Groen) aus beiden großen Landesteilen sowie die flämischen Christdemokraten (CD&V). Der Name „Vivaldi-Koalition“ leitet sich in Anlehnung an die vier in der Regierung vertretenen Parteienfamilien von der bedeutenden Konzertsammlung „Vier Jahreszeiten“ des italienischen Komponisten Antonio Vivaldi ab. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es in Belgien keine regionsübergreifenden Parteien gibt, lediglich die marxistische PTB-PVDA stellt eine Ausnahme dar.

Belgien gehört – ebenso wie Luxemburg und die Niederlande aus dem Beneluxverbund - zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Union – und spielt aufgrund dieser tiefen Verbundenheit mit der EU eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit. Neben dem historischen, politischen und kulturellen Einfluss ist die Wirtschaftskraft Belgiens mit einem starken Industrie- und Dienstleistungssektor hervorzuheben; so ist der Hafen von Antwerpen im europäischen Kontext und auch mit Bezug auf den internationalen Handel ein wichtiger Umschlagplatz für Güter und Dienstleistungen. Im bilateralen deutsch-belgischen Verhältnis wurde als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine engere Zusammenarbeit in Energiefragen vereinbart. Mittlerweile werden 45 Prozent der deutschen LNG-Gasimporte über den belgischen Hafen Seebrügge abgewickelt. Über die bilaterale und europäische Ebene hinaus engagiert sich das Land traditionell stark in multilateralen Foren und misst der internationalen Zusammenarbeit als Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sowie der NATO großen Stellenwert bei. Die starken Ergebnisse für die Nationalisten in Flandern und die Kommunisten in der Wallonie, wie aktuelle Umfragen vorhersagen, würden nicht nur Belgiens Rolle in der Europäischen Union und das deutsch-belgische Verhältnis belasten, sondern insbesondere den Interessensausgleich in Belgien selbst erheblich erschweren.

 

Wahlprognosen und mögliche politische Konstellationen auf nationaler Ebene

Aktuelle Umfragen prognostizieren eine weitgehende Polarisierung der politischen Kräfte. So wäre auf nationaler Ebene der rechtspopulistische Vlaams Belang (VB/Flandern) mit 15,4 Prozent die stärkste Kraft, gefolgt von der marxistischen PTB-PVDA (13,3 Prozent) und der rechtskonservativen NV-A (Flandern) mit 11,9 Prozent der Stimmen. Dahinter versammeln sich die Parteien der „Vivaldi-Regierung“, alle mit zwischen fünf und neun Prozentpunkten. Während fast alle Parteien an Wähleranteilen einbüßen müssten, würden VB und PVDA mit Gewinnen um die vier Prozent vergleichsweise stark zulegen. Bei den letzten Wahlen 2019 kamen die extremen Parteien mit VB auf lediglich 12 Prozent und PTB-PVDA auf 9,6 Prozent – NV-A jedoch auf stärkere 16 Prozent[2]. Zusätzlich zum Trend der Popularität der Rechtsaußenparteien fällt die wenig progressive Gesamtdemographie der belgischen Kandidaten auf. Ihr Durchschnittsalter ist gestiegen und zumindest im flämischen Teil Belgiens so hoch wie noch nie. Außerdem ist zum ersten Mal der Anteil von Frauen auf Listenplätzen, die realistisch zum Einzug ins Parlament reichen, gesunken[3].

In dieser Gemengelage werden vor allem zwei Aspekte zu beobachten sein. Zum einen die Frage, ob nochmal eine „Vivaldi-Koalition“ zustande kommt. Auf Grundlage der aktuellen Umfragen würden die momentan an der Regierung beteiligten Parteien knapp keine Mehrheit formen können – was die weitere Frage aufwirft, ob eventuell Les Engagés, das wallonische Pendant zu den flämischen Christdemokraten (CD&V), als möglicher Koalitionspartner hinzugezogen würde. Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Regierungsparteien selbst nicht mehr unbedingt in der aktuellen Konstellation regieren möchten. Beispielsweise äußerten die Vorsitzenden von CD&V und MR, dass sie möglichst eine Mitte-Rechts-Regierung bilden möchten, an der sie Les Engagés beteiligt sähen. Dies impliziert allerdings einen Ausschluss der Sozialdemokraten (PS), mit welchen Les Engagés sich eine Zusammenarbeit vorstellen könnten[4]. Diese Vorrufe zeigen bereits, dass eine „Vivaldi II-Regierung“ keine einfache Geburt werden würde.

Zum anderen deuten diese Ankündigungen auf eine weitere entscheidende Entwicklung hin: Die Positionierung der NV-A. Wird NV-A sich mit VB zusammentun oder die Orientierung in Richtung gemäßigter Vivaldi-Parteien suchen? Da VB von den gemäßigten Parteien aufgrund ihrer radikalen Positionen, u.a. ein unabhängiges Flandern auszurufen und Belgien als Staat aufzulösen, als Koalitionspartner ausgeschlossen wird, würde sich NV-A im Falle einer wie auch immer gearteten Kooperation mit VB selbst ins Abseits stellen. Als Partei, die sich zum Ziel gesetzt hat, Belgien in eine Konföderation zu wandeln, müsste die NV-A sicherstellen, auf nationaler Ebene koalitionsfähig für die Parteien der Mitte zu bleiben. Somit ist sicher, dass die Position von NV-A entscheidend für die Voraussetzungen für Koalitionsgespräche ist und damit auch dafür, wie isoliert VB im Parlament dastehen wird. Bis auf die Äußerung, dass NV-A eine „Vivaldi-Koalition“ verhindern möchte, hat die Partei jedoch noch nicht konkret Stellung bezogen[5].

 

Wahlkampfthemen

Die Wahlkampfthemen stehen im Zeichen der globalen Krisen, die erheblichen Einfluss auf Europa haben, spiegeln aber auch gleichzeitig die Prioritäten der im Juni endenden belgischen Ratspräsidentschaft wider. Unter dem Slogan „protecting people and borders“ ist es eine der - wenn nicht sogar die - Errungenschaft(en)  Belgiens,  während der Ratspräsidentschaft den lange forcierten und umkämpften EU Asyl- und Migrationspakt zum Abschluss zu bringen. Dieses Thema lässt sich auch im Wahlkampf wiederfinden, wobei es vor allem von den Parteien rechts der politischen Mitte migrationsskeptisch  verfolgt wird. Weiteres Hauptthema im Wahlkampf und ebenfalls eine Priorität der belgischen Ratspräsidentschaft, sind Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit („reinforcing our social and health agenda“). Dabei findet bspw. eine Begrenzung der Arbeitslosenunterstützung auf zwei Jahre Zuspruch von etwa der Hälfte der Belgier, eine Vermögenssteuer für mehr als 1 Mio. Euro sogar von zwei Dritteln. Gesundheitskosten sind in Belgien ein viel diskutiertes Thema, kommen jedoch nicht primär im Wahlkampf vor - immerhin knapp 30 Prozent der Brüsseler geben an, sie hätten Schwierigkeiten, die Gesundheitskosten zu begleichen. Angelehnt an soziale Fragen, scheint, wie auch in anderen europäischen Ländern, die Kaufkraft ein wichtiges Anliegen der Wählerschaft zu sein: knapp die Hälfte der Belgier gibt regionsunabhängig an, ihre Kaufkraft habe in den letzten drei Monaten abgenommen[6]. Dementsprechend wird das Thema von allen Parteien prominent bespielt. Die Staatsfinanzen und Verschuldung bleiben wie gewohnt auf der belgischen Agenda, ohne außergewöhnlichen Anklang zu finden; schließlich konnte das Thema durch eine im letzten Jahr verabschiedete Steuerreform erfolgreich von der noch amtierenden Regierung angegangen werden.

 

Zukünftige Herausforderungen

Die Umsetzung des Migrationspaktes wird eine wie auch immer geartete neue belgische Regierung vor große Herausforderungen stellen. Nicht nur, dass aufgrund der belgischen Ratspräsidentschaft andere Länder ihre Augen nach Belgien gerichtet haben und das Land gewissermaßen eine Vorbildfunktion einnimmt, gleichzeitig steht das föderal organisierte Belgien vor Problemen der Zuständigkeitsverteilung. Denn die Umsetzung bedeutet konkrete Änderungen im Asylsystem und die Einrichtung eines „Governance-Mechanismus“. Dieser auf Solidarität abzielende Mechanismus bestimmt, dass Mitgliedstaaten einen pro-Kopf-Anteil an Flüchtlingen aufnehmen oder Beiträge an andere Mitgliedstaaten zahlen müssen, die ausgleichend Flüchtlinge übernehmen. Daran anlehnend postulieren die christdemokratische CD&V sowie MR, dass sie die größten Herausforderungen nach den Wahlen im Bereich „Arbeit und Migration“ sähen. Darüber hinaus wird energie- und sicherheitspolitischen Themen große Bedeutung beigemessen[7]. Dagegen erscheint die seit langem diskutierte Staatsreform, die Änderungen im Wahlprüfverfahren und Erleichterungen bei der Regierungsbildung und Verfassungsänderung für mehr Handlungsfähigkeit vorsieht, außer Reichweite. Angesichts der fortschreitenden politischen Polarisierung, die es schon erschwert, einfache Mehrheiten zu finden, sprich eine handlungsfähige Regierung zu bilden, sind Vorhaben wie bspw. die Staatsreform mit Zweidrittelmehrheit schlicht nicht denkbar. Somit dürfte auch der Status der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorerst unangetastet bleiben und nicht – wie teilweise gefordert – von einer Sprachgemeinschaft in eine vierte Region des Landes umgewandelt werden.

Darüber hinaus wird es wohl eine Kernaufgabe in der kommenden Legislatur sein, die belgische Einheit zu stärken und der politischen Polarisierung entgegenzuwirken, um langfristig handlungsfähig zu bleiben. Die aktuelle Regierung hatte diese fortschreitende Polarisierung aus europäischer Perspektive bereits während der Ratspräsidentschaft unter dem Motto „defending rule of law, democracy and unity“ aufgegriffen. Im konkreten Fall der anstehenden belgischen Regierungsbildung, wird dies die glaubwürdige Repräsentanz aller Regionen und Sprachgruppen erfordern – im Gegensatz zur „Vivaldi-Regierung“, deren Zusammensetzung damals VB und NV-A Gelegenheit gab, eine anti-flämische Allianz zu propagieren.

 

Regionalwahlen: Rechtspopulisten in Flandern auf dem Vormarsch

Die Gespaltenheit Belgiens wird auch mit Blick auf die Prognosen der regionalen Wahlen deutlich. Während in der Wallonie die sozialdemokratische PS auf fast 25 Prozent käme, zeichnet sich ab, dass die rechtspopulistische VB (26,5 Prozent) zusammen mit der rechtskonservativen NV-A (20,5 Prozent) fast die Hälfte aller Stimmen in Flandern für sich verbuchen könnte[8]. In der Wallonie stehen daher die Zeichen auf eine Mitte-Links-Regierung, wohingegen in Flandern zumindest an der NV-A kein Weg vorbeiführt. Wie auch auf nationaler Ebene hängt die flämische Regierungsbildung somit von der Positionierung der NV-A ab. Sollte sie mit VB koalieren, wären Mehrheiten vergleichsweise einfach zu finden, die NV-A würde aber Juniorpartnerin sein und liefe Gefahr, sich auf föderaler Ebene sämtliche Koalitionsoptionen mit den gemäßigten Parteien zu verbauen. Innerparteilich ist die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit Vlaams Belang umstritten. Brüssel bewegt sich dagegen zwischen den Polen, hier führt die liberale Open VLD in Umfragen, gefolgt von PTB-PVDA, MR und Groen. Ein interessantes Novum ist, dass die NV-A erstmalig auch in der Wallonie antritt, allerdings weniger mit der Absicht, Sitze zu gewinnen, als den Diskurs zu beeinflussen.

 

Ausblick: Regierungsbildung wird nicht einfacher

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Umstände sich nun noch verschärfen, die bereits vor fünf Jahren eine Regierungsbildung erschwert haben. Obwohl die „Vivaldi-Regierung“ einigermaßen geräuschlos regiert hat und einige Erfolge verzeichnen konnte, scheint sich die allgemeine Stimmung im Land gemäß aktueller Wahlumfragen verschlechtert zu haben. Dies zeigt sich in der Orientierung der Wählerschaft, die sich, auch bedingt durch äußere Krisen und Unsicherheiten, mehr und mehr den extremen Parteien zugewandt hat. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal für Belgien, sondern lässt sich auch in anderen westlichen Demokratien beobachten. Erschwerend kommt für Belgien jedoch die starke Föderalisierung sowie die zunehmende Entfremdung zwischen Regionen und Sprachgebieten hinzu. Es bleibt also abzuwarten, wie die Parteien sich nach den Wahlen endgültig positionieren und wie kompromissbereit sie sind, um Handlungsfähigkeit herzustellen. Vor diesem Hintergrund könnte dem König erneut eine wichtige Rolle zukommen, der als Staatsoberhaupt die Regierungsbildung moderiert und durch die Einsetzung von sogenannten „Formateuren“ Einfluss auf deren Verlauf nimmt. Schließlich lässt sich trotz der dreistufigen Wahlen am 9. Juni feststellen, dass die Europawahlen von den National- und Regionalwahlen überschattet werden und innenpolitische Themen und nationale Akteure den Wahlkampf vor Ort dominieren.

 

[1]      Flandern, Wallonie, Region Brüssel-Hauptstadt, Deutschsprachige Gemeinschaft.

[2]      Belgium: Polls and trends for the 2024 election (politpro.eu)

[3]     Wahlen am 9 Juni: Durchschnittsalter der Kandidaten noch nie so hoch; weniger gute Listenplätze für Frauen | VRT NWS: nachrichten

[4]      Wahlen ’24: CD&V und MR wollen gemeinsam eine belgische Regierung bilden | VRT NWS: nachrichten

[5]      Wahlen ’24: Die N-VA will ein Ende von Vivaldi und den Konföderalismus für Belgien | VRT NWS: nachrichten

[6]     Sondage 'Le Choix des Belges' : les électeurs veulent une taxe sur le patrimoine et la limitation du chômage à deux ans - RTBF Actus

[7]      Wahlen ’24: CD&V und MR wollen gemeinsam eine belgische Regierung bilden | VRT NWS: nachrichten

[8]      Belgium: Polls and trends for the 2024 election (politpro.eu)

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Dr. Beatrice Gorawantschy

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Leiterin des Europabüros Brüssel

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