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Mehrdimensionalität und Mythen

von Michael Wolffsohn

Eine andere Jüdische Weltgeschichte

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Bauchnabelschau sind die meisten Darstellungen zur Jüdischen (Welt-)Geschichte. Nicht viel anders die meisten anderen Nationalgeschichten. Auch über Deutschland. Leider kein Wunder, denn: Meistens betrachtet fast jedes Individuum ebenso wie fast jedes Kollektiv sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Zu selten wird gewichtet, werden die zahlreichen national-internationalen Verflechtungen oder auch die Wechselbeziehungen von Mehrheit und Minderheit in den jeweiligen Kollektiven beachtet, selten die Dialektik des Untersuchungsgegenstands. Am wenigsten die Vielschichtigkeiten beziehungsweise die Multidimensionalität, obwohl jede Geschichte, wie etwa die Archäologie, aus vielen mit-, über- und untereinander vermischten Schichten besteht.

Deshalb versuchte ich, eine andere Jüdische Weltgeschichte zu schreiben. Ob mir das gelungen ist, können nur die Leser entscheiden. Erklären möchte ich meinen Ansatz anhand einiger Beispiele. Dabei geht es nicht um akademische Glasperlenspiele, sondern letztlich um die Steuerung der Zukunft, also um Politik zwischen Juden und Nichtjuden – nicht nur in Deutschland.

 

„Jüdischer Kosmopolitismus“ oder Nationalismus?

 

Die neueste, von Benjamin Netanjahu geführte nationalistisch-religiöse israelische Regierung ist wahrlich alles andere als kosmopolitisch beziehungsweise universalistisch orientiert. Auch ihre Apologeten werden ihren jüdisch-israelischen Partikularismus nicht bestreiten.

Man mag das gutheißen oder verurteilen, historisch betrachtet dokumentiert diese Tatsache ein Grundmerkmal jüdischen Seins seit etwa dreitausend Jahren: Stets gab und gibt es sowohl eine eher universalistische als auch eine eher partikularistische Strömung im Judentum sowie in den jüdischen Gemeinwesen beziehungsweise Staaten der Vergangenheit und Gegenwart. Mal dominierte die eine, mal die andere. Doch immer ist die Dominanz der einen oder anderen Reaktion auf die Entwicklungen innerhalb oder außerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Hier und heute ist die Wiederwahl des Netanjahu-Blocks, der jetzt noch partikularistischer als zuvor ist, eine Folge des verstärkten palästinensischen Raketen und „konventionellen“ Terrors sowie der bedauerlichen Unfähigkeit der liberalen Vorgängerregierung, diesen politisch oder militärisch zu beenden. Auch die Abwendung von der „Internationalen Gemeinschaft“ ist nachvollziehbar. Geredet hat sie viel, erreicht nichts.

In der Antike war das Königreich Israel nachweislich offener als das Königreich Judäa. Eben deshalb wird es von den partikularistischen Autoren der Hebräischen Bibel geschmäht. Die universalistischen Autoren platzierten im Buch der Bücher dagegen die Lehren der universalistischen Propheten. Bis in die Gegenwart und in der Zukunft rivalisieren beide Richtungen. Partikularisten und Universalisten kommen und gehen, doch das zumindest zweidimensionale Judentum war, ist und bleibt.

„Jüdischer Kosmopolitismus“ ist seit dem Zeitalter der Nationalismen ein Dauervorwurf gegen „die“ Juden. Er ist seit jeher so unsinnig, weil eindimensional, wie die Unterstellung, „die“ Juden würden sich von der nichtjüdischen Umwelt abkapseln oder sich „für etwas Besseres“ halten. Die Polarisierung zwischen Partikularisten und Universalisten ist so wenig „typisch jüdisch“ wie etwa in Deutschland die Großströmungen „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (Friedrich Meinecke).

 

Sind die Juden ein Volk?

 

Bereits die Frage gilt vielen als „rassistisch“, erinnert an nationalsozialistische Wahn-Theorien oder auch „nur“ an Thilo Sarrazins „Jüdische Gene“.

Ja, wir Juden sind ein Volk, heißt es in Bibel und Gebeten: „Kinder Israels“ oder  Am = Volk Israel“. Unverkennbar: die biologistische Sichtweise.

Nein, antworten viele moderne Juden. Sie seien zudem nicht religiös, sondern Deutsche oder Franzosen und so weiter „wie du und ich“. Stimmt. Das ändert nicht diese inzwischen wasserdicht empirisch, wissenschaftlich von Medizingenetikern und Archäogenetikern erforschte und belegte Tatsache: Abgesehen von den jemenitischen und äthiopischen Juden haben weltweit alle Juden eindeutig vorderorientalische Vorfahren. Einerseits. Andererseits haben sie sich durchaus mit der jeweiligen nichtjüdischen Bevölkerung vermischt. Mal mehr, mal weniger, aber eben doch. Anders als meistens dargestellt war die Trennung zwischen Juden und Nichtjuden demnach nicht so hermetisch. Wann und wie bildete sich aber das jüdische Kollektiv? Ungefähr zwischen 1.600 und 1.200 v. Chr. auf dem judäischen Bergland. Dorthin hatte sich die Bevölkerung vom Küstenstreifen zurückgezogen, um entweder der durchziehenden ägyptischen oder der jeweiligen Soldateska auf dem Gebiet von Mesopotamien zu entkommen. Wann und wo wurde dort das Kollektiv Staat? Um das Jahr 1.000 v. Chr. Wie war das zwischen den damaligen Weltmächten Ägypten und denen in Mesopotamien möglich? Nur dann, wenn die Weltmacht Ägypten oder die jeweils in Mesopotamien vorherrschende Macht zu schwach war, um im Vorderen Orient zu dominieren. War das jüdisch staatliche Kollektiv hermetisch in und für sich geschlossen? Nein. Siehe Bibel. Auch später nicht.

Dieses Faktum belegt die Stadtgeografie. Judenviertel, -gassen oder -straßen lagen selbst im Mittelalter meistens direkt im Stadtzentrum. Nahe dem Rathaus oder Markt. Wo und wenn sich Menschen treffen, ent- und bestehen Kommunikation, menschliche Nähe, auch Liebesbeziehungen. Die Genetik dokumentiert es. Ebenso die Literatur. Man denke an Lope de Vegas Drama Die Jüdin von Toledo. Verfasst im „Goldenen Zeitalter“ Spaniens, zugleich die Hochphase der Inquisition. Selbst die militant judenfeindliche, teils rassistische und christliche Judenfeindschaft hatte im mittelalterlichen Spanien zwei Seiten.

 

Die Doppelbödigkeit des Antisemitismus

 

Womit wir beim Ewigen Thema, der unendlichen Geschichte des Antisemitismus, wären. Dass dieser seit r- und 3.500 Jahren ein Fluch ist, darf und muss moralisch vorausgesetzt werden. Begonnen hat er um 1.500 v. Chr. als innerägyptische macht- und religionspolitische Auseinandersetzung. Pharao Echnaton (und seine schöne Frau Nofretete) führten damals eine Art Monotheismus ein. Schon bald kam es zur polytheistischen Restauration. Eine Variation der Echnaton-Religion übernahm und entwickelte die bald danach entstehende jüdische Gemeinschaft. Antisemitismus ist also weder eine christliche noch eine islamische oder deutsche Neuerung.

Das Christentum entwickelte sich bekanntlich aus und dann gegen das Judentum. Gegen das Judentum aus funktionaler (nicht ethischer) Notwendigkeit. Wer Neues präsentiert, grenzt sich vom Alten ab. Meist polemisch. Eine Art Vatermord. Die Dialektik des uraltneuen Antisemitismus besteht darin, dass dieser Millionen Juden Diskriminierung bis hin zur Liquidierung zufügte – und gerade dadurch, natürlich gegen den Willen der Judenmörder, den Überlebenswillen und die Überlebensfähigkeit des jüdischen Kollektivs schärfte und stärkte. Gewiss, der Blutzoll war hoch, zu hoch, doch die Dialektik offenkundig. Ist sie „gut“? Natürlich nicht, doch sie besteht.

 

Islamischer Antisemitismus

 

Zu den vielen Legenden der Weltgeschichte zählt diese: Der Islam kenne keinen Antisemitismus, und den Juden sei es in der islamischen Welt stets besser er- und gegangen als in der christlichen. Selbst Standardwerke wie die des großen Gelehrten Bernard Lewis verbreiten diese Erzählungen. Tatsache ist, dass der Koran, die verschriftlichte Überlieferung der vermeintlichen Worte und Taten Mohammeds sowie die quasi kanonisierte Prophetenbiografie, mit Antijüdischem gespickt ist. Religionspolitisch-funktional war das bei der Entstehung des Islam ebenso wie die Abgrenzung zum Christentum der Heiligen Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist (nicht zum arianischen Christentum, das diese Trinität ablehnt) notwendig, um den neuen Glauben zu rechtfertigen. Vergleichbar funktional hatte sich das Christentum zunehmend vom Judentum abgegrenzt und es dann bekämpft. Die theologisch-funktionale Notwendigkeit führte zu Polemik, die sich in einer feindlichen Judenpolitik bemerkbar machte. Wie in der christlichen Welt freilich erst, wenn und wo die Juden nicht mehr gebraucht wurden. Pogrome gegen Juden waren auch in der islamischen Welt alles andere als die Ausnahme, selbst in der vermeintlich Goldenen Epoche des Islam auf der Iberischen Halbinsel. Pogrome in der islamischen Welt? Ja. Aber kein dem Holocaust auch nur annähernd vergleichbares Megaverbrechen.

 

Die Funktion des Antisemitismus

 

Belege für die Theologie, Ideologie, Ökonomie oder Soziologie des Antisemitismus sind Legion und vielfach bekannt. Zentral ist die Funktion des Antisemitismus. Den Juden ging und geht es gut, wenn sie, wie Waren, gebraucht wurden – und werden. Danach ist „Schluss mit lustig“, sprich: mit der Toleranz.

Ob, wann und dass die Juden gebraucht wurden, erkannte die Obrigkeit zum eigenen und volkswirtschaftlichen Nutzen weit häufiger, länger und schneller als die Unterschichten. Diese Tatsache galt und gilt für die christliche ebenso wie für die islamische Welt. Mehr als am Rande vermerkt: Auch der mittelalterliche Investiturstreit zwischen Papsttum und Kaiser-, König- sowie Fürstentum weist judenpolitische Dimensionen auf. Die nahezu gleichzeitigen Kreuzzüge mit ihren auch militant antijüdischen Auswüchsen sollten die weltlichen Schutzherren der Juden wirtschaftlich und damit auch machtpolitisch schwächen sowie in die theologisch-ideologische Defensive gegenüber und in die Arme der Kirche treiben.

Eine Folge der Judenverfolgungen, -vertreibungen und -vernichtungen fällt besonders auf: Abgesehen vom Leid der Juden haben sich die Judenverfolger selbst enorm geschadet – kulturell, wissenschaftlich und vor allem wirtschaftlich. Daraus folgt für Antisemiten gestern, heute und morgen: Die Antisemiten sägen sich selbst den Ast ab, auf dem sie bequem sitzen. Sie sind nur zu dumm, um es zu erkennen.

 

Sind Juden intelligenter?

 

Natürlich sind Juden nicht intelligenter als Nichtjuden. Auch nicht dümmer. Doch anders als die meisten anderen Völker – seit etwa 2.500 Jahren – gibt es bei Juden eine Tradition der Volksbildung. In der Bildungspolitik gilt das gleiche Erfolgsrezept wie beim Sport: Ohne Breitensport kein Spitzensport.

Bereits im jüdischen Zentralgebet, dem „Höre Israel“, dessen Text zwischen 500 und 300 v. Chr. entstanden sein dürfte, wird jeder Jude aufgefordert, die göttlichen Gebote seinen Kindern beizubringen und sie in nahezu allen Lebenslagen vom Morgen bis zum Abend zu erklären. Verstaatlicht institutionalisiert wurde Volksbildung in Judäa im zweiten vorchristlichen Jahrhundert und dann von den Talmudweisen im späten ersten nachchristlichen Jahrhundert. Ohne Wissen, zumindest ohne Alphabetisierung, kein erfolgreiches Wirtschaften. Mit ihrer seit Jahrtausenden ständig fortentwickelten Bildungs- und Wissenstradition gelang überproportional vielen Juden auch wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Erfolg. Bis heute. Nicht weil sie intelligenter wären, wohl aber weil Bildung – auch ohne staatliche Hilfen – als Wert an sich gilt. Für ihn haben sich die Eltern oder die Gemeinschaft Arme und Beine ausgerissen. Das Bewusstsein prägt hier das Sein.

 

Religiöse Dogmen?

 

Das Tragen einer Kippa, die Beschneidung von Jungen, koscheres Essen – all das wird allgemein, quasi dogmatisch, als elementar und dauerhaft im Judentum beschrieben. Von wegen, denn das war nicht immer so und erfüllt(e) klar erkennbare Funktionen. Erhaltung des Kollektivs.

 

Judentum und Sex

 

„Porno“, Prüderie und Entspanntheit gegenüber jedweder Körperlichkeit bietet bereits die biblisch jüdische und ebenso die talmudische Tradition. „Dreierlei Genuss aus der Kommenden Welt gibt es bereits in dieser: Sonne, Sabbat, Beischlaf.“ Mehrdimensionalität auch im sexualtheologischen Bereich.

 

Machten jüdische Persönlichkeiten Geschichte?

 

Frage und Antwort sind nicht nur für die Jüdische Geschichte von Bedeutung. Nachweisbar machte die eine oder andere Persönlichkeit den jeweiligen Unterschied. Welche, wie, warum? Das kann nur im jeweiligen Zusammenhang erläutert werden. Stets ist das Wechselspiel zwischen Personen und Strukturen zu berücksichtigen. Im Mittelalter hätte selbst ein Ben Gurion nicht den Staat Israel gründen können. Männer oder Frauen machen aber sehr wohl Geschichte, wenn sie historisch günstige Rahmenbedingungen zur Durchsetzung ihrer Ziele erkennen und dann um- sowie durchsetzen.

So eine Persönlichkeit war Ben Gurion – und war 1989/90 in Deutschland Helmut Kohl. Und war vor ungefähr 3.200 Jahren „der“ jüdische Prophet und Gesetzgeber schlechthin: der biblische Moses. Jedoch: Dieser Moses war nicht wahr, also nicht historisch. Moses war und ist ein wirkmächtiger Mythos. Die Erzählung und Charakterisierung seiner Person war Mittel zum Zweck – zur Verwirklichung von Wunsch und Vision der Autoren in der Vor- und Frühphase der jüdischen Gemeinschaft. Ergo: Auch Mythen machen Geschichte. Ähnliches gilt für den Propheten des Islam, Mohammed (vgl. zur Einführung dazu Barbara Köster: Der missverstandene Koran, Berlin 2015). Doch das ist ein weites Feld, jedenfalls ein anderes. Und viele weitere gibt es. Man lese und wisse mehr, bevor man (auch) über Jüdische Weltgeschichte redet.

 

Michael Wolffsohn, geboren 1947 in Tel Aviv, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte, Bundeswehruniversität München.

 

Wolffsohn, Michael: Eine andere Jüdische Weltgeschichte, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2022, 368 Seiten, 28,00 Euro.

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